„Spirited Children“ oder: ist Dein Kind gefühlsstark?

Mein jüngstes Kind war von Anfang an anders als die anderen Kinder- es weinte viel, war sehr aktiv, schlecht zu beruhigen und war insgesamt viel leichter aus der Fassung zu bringen. Ich habe mich damals beruflich schon mit untröstlichen Babys beschäftigt, konnte vielen Müttern mit körpertherapeutischen Interventionen helfen und hatte die Hoffnung, das sich diese Gefühlsstärke bei ihm noch “ verwächst“. Es wurde mit der Zeit etwas besser aber aber diese Intensität der Gefühle, die mein Kind auch noch mit 5 Jahren an Tag legte, war mir ein Rätsel. Während Freundinnen davon schwärmten, wie „pflegeleicht“ ihr Kind war, wo sie es überall mit hinnehmen konnten und wie friedlich es spielt und schläft, wurde bei uns Zuhause der Notstand ausgerufen, wenn ich auch nur eine Millisekunde zu spät das (falsche) Essen parat hatte oder das Schildchen im Pullover den Rücken aufkratzt. Später waren circa 300 starke Wutanfälle an der Tagesordnung und es wurde schwer ge- und beschimpft. Ich war manchmal monatelang mit mir und meinem fachlichen Latein am Ende.

Lag es an mir? An der Schwangerschaft, an der Kaiserschnittgeburt? An meiner Inkompetenz?

Gab es doch eine Störung, Adhs oder eine Auditve Wahrnehmungs- und Verarbeitunsstörung? Asperger? Nein. Nichts davon passte so richtig und mein Gefühl sagte mir auch immer, dass es etwas anderes sein muss. Bei meiner Suche nach einer Erklärung stieß ich auf einer amerikanischen Seite das erste Mal auf die Bezeichnung “ Spirited Children“ und war- erlöst! Alle meine Bedenken und Sorgen wurden mir hier, endlich, erklärt. Das Verhalten das mein Kind an den Tag legte ist keine Frage der Erziehung oder eine persönliche Schwäche/Störung des Kindes sondern reine HIRNCHEMIE! Mary Sheedy Kurcinka forschte in den 90er Jahren über diese Phänomen und fand viele Antworten. Ihr müsst Wissen, das es den Begriff „gefühlsstark“ oder „hochsensibel“ in den 90ern hier in Deutschland noch nicht gab. Auch wir als Experten waren wir damals einfach ratlos.

Kurcinka geht davon aus, dass circa 20% aller Menschen eher „gefühlsstark“ geboren werden. Diese Kinder sind schon als Baby sehr eigen, zielstrebig und lassen sich ungern unter Druck setzen. Sie verfügen über eine starke, intrinsische (innere, von innen heraus ) Motivation und lehnen früh es ab, Fremdbestimmt zu sein. Mit Zwang und Druck stärkt sich bei diesen Kindern nur der massive Widerstand. Selbstbestimmung war meinem Sohn als Baby schon wichtig, gefolgt im Kindergartenalter, wo er seine Selbstbestimmung als Dreijähriger mit schwarzen Klamotten, lackierten Nägeln und langen Haaren zum Ausdruck brachte. Und es waren noch andere Zeiten, da gab es in der Kita noch die Ordnung „Junge- kurze Haare, Mädchen lange Haare und rosa Kleidung“. Die Erzieher baten immer wieder zum Gespräch, was denn mit ihm „sei“. Ich erklärte den Erziehern, dass er zu den gefühlsstarken Kindern gehöre und sehr gerne seine Meinung und Werte vertritt. Die folgenden Merkmale waren für das Kita- Team sehr aufschlussreich:

Merkmale der „Spirited Children“/ gefühlsstarker Kinder sind laut Mary Sheedy Kurcinka :

1.Stark erlebte Gefühle, die sich schnell von einem Extrem in das Andere wechseln können (von sehr fröhlich vergnügt bis plötzlich untröstlich, verzweifelt und am Ende)

2.Sie sind sehr aufmerksam und nehmen ihre Mitmenschen und ihre Umwelt extrem wahr, können sehr scharf sehen, fein hören, riechen, schmecken und fühlen. Sie erleben auch Speisen und Gewürze extrem und können mit spontanem und heftigem Erbrechen auf bestimmte Lebensmittel reagieren. Bei uns waren Paprika eine Qual..

3. Sie verfügen über extrem viel Energie, werden scheinbar nicht müde und lassen sich von einer Idee oder Wunsch nicht abringen. Ihre Idee wird hartnäckig wiederholt und wiederholt vorgetragen, bis wir Eltern in der Weißglut landen, weil es scheint, dass diese Kind kein Nein versteht.

4.Sie sind häufig hochsensibel und schnell von Reizen überflutet, können sich selbst schlecht einschätzen, ab wann sie etwas überfordert und finden kein Ende.

5. Veränderungen und neue Umgebungen sind für sie schnell überfordernd, sie reagieren sehr gestresst auf tägliche Routineabweichungen. Sie klammern und wirken insgesamt ängstlicher als andere Kinder.

6. Sie lieben bestimmte Rituale und Routinen und bestehen fast zwanghaft darauf. Es gibt aber auch genau das Gegenteil- plötzlich soll alles immer anders sein und es wird sich gegen jeden Ablauf massiv aufgelehnt.

7. Diese Kinder verfügen schon früh über eine emotionale Tiefe, sie können sehr nachdenklich, traurig und philosophisch sein und machen sich sehr erwachsene und komplexe Gedanken zu allen Themen. Viele gefühlsstarke Kinder haben einen starken Gerechtigkeitssinn und kämpfen für sich und ihre Liebsten bis zur Erschöpfung.

Kinder mit einer herausfordernden Persönlichkeit gab es schon immer, früher hießen sie Tyrann, seien bockig, frech und wurden leider auch als schwer erziehbar abgestempelt. Damals dachte man, mit Druck und Disziplin sind diese Kinder schon zu bändigen und wenn es nicht klappt, liegt es immer an den „schwachen“ Eltern. Doch dies ist mittlerweile wissenschaftlich wiederlegt und eine riesen Entlastung für alle Eltern, die ein oder mehrere gefühlsstarke Kinder groß ziehen.

Doch zurück zur Hirnchemie: bei gefühlstarken Kindern ist die Amygdala, das Alarmzentrum im Gehirn, aktiver als bei anderen Kindern. Der Vagusnerv, der die für Selbstregulation zuständig ist, ist dagegen relativ schwach ausgeprägt, was dazu führt, dass diese Kinder erstens schnell übererregt sind, also in Alarmbereitschaft sind und sich gleichzeitig auch sehr schwer alleine regulieren können. Da kann die kratzige Strumpfhose zum stundenlangen Drama werden und das antiallergene, reizfreie Shampoo brennt trotzdem wie Feuer in den Augen, weil diese Kinder es tatsächlich so extrem fühlen und ehrlich empfinden!

Dein Kind „macht“ kein Drama sondern erlebt es gerade wirklich !

Dennoch stellt uns der Alltag mit einem gefühlsstarken Kind vor großen Herausforderungen, denn nicht immer können wir einen Wutanfall oder totale Frustration liebevoll und zugewandt begleiten. Weiter geben uns die Anforderungen der Kinder das Gefühl, dass es nie genug ist. Egal wieviel Du gibst, es will immer noch mehr! Ich habe damals mit Hilfe meiner Familie und meiner damaligen Professorin gelernt, starke Grenzen zu setzten und verstanden, dass das Prinzip: „Behandle andere Menschen so, wie Du selbst behandelt werden willst!“ hier definitiv nicht greift. Mein Kind brauchte eine klare Sprache, eine klare Struktur, viele, viele Routinen und Rituale, um sich in diesem Rahmen geborgen zu fühlen. Ich lernte, dass ein Nein keinen Schmerz und Zurückweisung für mein Kind bedeutet, sondern Sicherheit schafft. Gerade gefühlsstarke Kinder brauchen unbedingt eine liebevolle, klare Begleitung und ein Nachgeben ist hier nicht immer zielführend. Liebevolle Fürsorge ist für diese Kinder besonders wichtig, da sie sich nach ihren Ausbrüchen oft sehr schämen.

Aber auch für Eltern mit einem gefühlsstarken Kind ist es sehr wichtig, gut für sich zu sorgen. Um mein Kind ( aus-) halten zu können muss ich dafür sorgen, erstmal selbst gut und sicher zu stehen. Ein echter Lernprozess- für beide Seiten. Auch die verbalen „Ausfälle“ meines Kindes lernte ich zu verstehen – wenn es wieder beleidigend wurde und schimpfte, wusste ich, dass ist jetzt nicht persönlich gemeint sondern seine Art, den Stress des Tages zu regulieren. Je mehr im Alltag los war, desto ausfallender wurde die Sprache daheim- wir vereinbarten Grundregeln im Umgang miteinander, „Motzzeiten“ und „Fluch-Räume“, wo es seiner „Regulation“ nachgehen konnte. Ich habe meinem Kind durch meine starke, klare Haltung zeigen können, dass es Andere mit seinem Verhalten verunsichern kann und verletzen kann. Es brauchte eine Begleitung, um sich sozial einzufügen, obwohl das gefühlstarke Verhalten meistens Zuhause so extrem war. Ich habe verstanden, dass das intensive Verhalten meines Kindes mir gegenüber anzeigt, dass es mir vertraut und sich in seiner Gefühlsstärke zeigen darf. Es hat gelernt, das es okay ist, wie es ist, als Person geliebt wird, aber nicht sein Verhalten toleriert wird Wir haben gelernt, nicht zu strafen sondern logische Konsequenzen anzuwenden und mit positiven Verstärkern gearbeitet. Ich habe gelernt, mit dem Verhalten meines Kindes umzugehen und wir sind beide daran gewachsen. Ich habe verstanden, dass es nicht meine “ Schuld“ war, das mein Kind so intensiv fühlt und reagiert. Im Rückblick ist mir klar geworden, das auch ich ein gefühlsstarkes Kind war. Mir wurde schon früh der Stempel “ Problemkind“ aufgedrückt und es gab schlechte Prognosen, die sich aber nicht erfüllt haben. Aus mir ist etwas geworden und meine Themen waren auch immer ein großer Antrieb, mich zu entwickeln und mich mit den Themen Selbstregulation und emotionale Intelligenz auseinander zu setzten. Und aus meinem jüngsten Kind ist etwas wunderbares geworden- ein empathischer, mutiger, starker Mensch, der sehr kreativ ist und selbstbewusst seinen Weg geht- und sich dabei übrigens prima regulieren kann. Denn das hat er wirklich gelernt.

Foto: Lucas Pezeta von Pexels

Danke, dass Du bis hier gelesen hast und schön, dass Du da warst! Bis bald.

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